1. Was ist Krautrock?
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Der Begriff "(Sauer-)Kraut-Rock" war geboren durch das Stück "Mama Düül und ihre Sauerkrautband spielt auf" von der 1969 erschienenen Langspielplatte "Psychedelic Underground" von Amon Düül. Die englischsprachige Pop-Presse hatte damit einen Begriff gefunden um zu bezeichnen was Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre aus Deutschland erklang: Geräusch-Collagen, 25minütige Improvisationen, technischer Minimalismus, Sound-Experimente, "Weird German Stuff" .."StrangeTeutonic Sounds"...
Die musikalischen Vorlieben der Gruppen, die man so etikettierte, waren jedoch alles andere als einheitlich. Die beiden Hälften des Krautrock-Gehirns stellten sich dar als eine durch Vorbilder aus dem englischsprachigen Raum inspirierte Hälfte und eine experimentell-orientierte separatistische Hälte, die auf Autonomie und Unverwechselbarkeit bedacht war (bei vielen Plattenkäufern sollte dies noch zu Kopfschmerzen führen).
Der Hard-, Heavy-, Westcoast-, Jazz- oder Blues-Rock von Gruppen wie Kraan, Scorpions, Karthago, Grobschnitt, Jane, Curly Curve oder Novalis war von mehr oder weniger interessantem Eklektizismus und kaum von wirklichen Innovationen geprägt. Als qualitative Ausnahmeerscheinungen können hier lediglich die Gruppen Guru Guru, Embryo, Amon Düül, ihr späterer Ableger Amon Düül II und Can gelten. Diese vier Bands repräsentierten einen Bereich, der zwischen den genannten konventionellen Formen (der aus dem anglo-amerikanischen Raum importierten Rockmusik), und dem fortschrittlichen, originären Teil des Krautkopfes positioniert war.
Guru Guru hatte dabei die Rolle der jazzig-improvisationsfreudigen "Spaßguerilla" übernommen. Amon Düül II wirkte als Band,dessen programmatisch-fanatische Ausgeflipptheit und musikalischer Einfallsreichtum, auch Dank der markanten Stimme von Renate Knaup und der trashigen Fantasy-Poesie der Songtexte, bis heute innerhalb des Sub-Genres "Krautrock-ROCK" unübertroffen bleibt. Embryo prägte früh das Genre der "Weltmusik". Can galt als Verbindung musikalisch geschulter, virtuos spielender Psych-Avantgardisten.
Mit der Herausbildung unterschiedlicher Stile und Spielarten des Krautrock entstand eine neue und einzigartige Form deutscher Folkmusik, die von den Liedertexten und der Musik der Balladen des Mittelalters inspiriert war. Bands, die mit ihren Kompositionen (und ihrem Erscheinungsbild) die Reise zurück ins Mittelalter antraten, was oft die Verwendung historischer Instrumente einschloß, waren z.B. Ougenweide, Elster Silberflug oder Sparifankal.
Daneben gab es noch Sonderformen, die nicht unerwähnt bleiben sollen, beispielsweise das folkige Kiffer-Duo "Witthüser & Westrupp" dem die Nachwelt einige der seltsamsten Balladen der Popgeschichte zu verdanken hat.
Viele kostbare Perlen sind in dem durch Sound- und Improvisations-Experimente und die Verwendung von Elektronik geprägten fortschrittlichen Bereich von Krautrock zu finden: Cluster (Kluster), Harmonia, Conrad Schnitzler, Klaus Schulze, Faust, Ash Ra Tempel, Mythos, Popol Vuh, Kraftwerk, Neu!, La Düsseldorf, ...
Musiker wie Florian Fricke (ehemaliger Schüler von Rudolf Hindemith dem Bruder von Paul Hindemith und Gründer von "Popol Vuh") benutzten den Moog-Synthesizer erstmals in außerklassischem Kontext und schufen Werke, die als Ambient-Vorläufer gelten können. Die Verbreitung und Vermarktung vieler Werke ist dem Umstand zu verdanken, daß sie als Filmmusik verwendet wurden (z.B. waren Popol Vuh die Produzenten der Soundtracks zu den meisten Werner-Herzog-Filmen).
Die fantasievoll gestalteten Plattenhüllen listeten als Instrumente nicht nur die damals und heute teuren Geräte zur subtraktiven Klangsynthese auf, analoge Synthesizer-Legenden von Moog, EMS, Don Buchla, Arp, Serge oder dem sagenumwobenen "Synthesizerstudio Bonn", Verwendung fanden die merkwürdigsten Dinge: z.B. "Luftpumpe, Blechdosen, Wasser" (Harald Klemm von der Gruppe Annexus Quam) oder "Potentiometers, Generators and Soundeffects" (Hellmuth Kolbe von der deutsch-holländischen Band Brainticket).
Elektronische Gerätschaften hatten um 1968 zwar schon in die englische und amerikanische Popmusik Einzug gehalten, sie wurden dort allerdings größtenteils als Gimmick-Erzeuger benutzt (z.B. bei "Fifty Foot Hose"), - oder einfach von den falschen Leuten bedient, die das Potential der neuen Klänge nicht erkannten und lediglich Mittelmäßiges für die Masse produzierten (z.B. Pink Floyd nach dem Rauswurf von Syd Barrett). Auch hier gab es zwar einige wenige, wirklich beeindruckende Ausnahmen: "The Silver Apples", "The United States of America" oder "Tonto´s Expanding Head Band", die neuen elektronischen Instrumente wurden jedoch erst bei den deutschen Krauts zum dominierenden Element. Von besonderer Bedeutung war dabei die Nähe zur innovativen Neuen Musik (Stockhausen, Musique concrétè) und die völlige Bedenkenlosigkeit und Radikalität bezüglich der Ablehnung sämtlicher Konventionen.
Das deutsche Fernsehen beschäftigte sich im Jahr 2006 ausgiebig mit der Ära des Krautrock. Der WDR öffnete sein Archiv für die Produktion der 6-teiligen Serie "Kraut und Rüben, über die Anfänge deutscher Rockmusik / Die ultimative Krautrock-Doku von Stefan Morawietz", die von 2. Februar - 16. März 2006 ausgestrahlt wurde.
Das letzte Krautrock-Revival war Mitte der 90er Jahre zu verzeichnen, Julian Cope der Autor des "Krautrocksamplers" hat in diesen Jahren viel Informations- und Aufklärungsarbeit geleistet. Mittlerweile wurden die Alben von NEU! wieder produziert, andere spannende Reissues und neue Werke von Protagonisten der Szene, wie z.B. Irmin Schmidt oder Roedelius sind zu erwarten ...
Die an dieser Stelle beschriebene Musik, die um 1970 hierzulande entstand, ist vielfältig und folgte unterschiedlichen Konzepten. So ist auch zu verstehen, daß einige Musiker die Bezeichnung "Krautrock" trotz vorhandener genretypischer Merkmale vehement ablehnen (wie z.B. Kraftwerk). Zu sehr scheint mit dieser Bezeichnung das irreführende Klischee vom schwitzenden langhaarigen Rock-Gitarristen verbunden zu sein. Dennoch ist der Zeitraum, dem die hier aufgelisteten Bands und einzelnen Musiker entstammen, nicht besser oder treffender zu kennzeichnen als mit "Ära des Krautrock". Einer Ära in der positive gesellschaftliche und musikalisch-experimentelle Utopien auf den Trümmern der Vergangenheit für kurze Zeit strahlend erblühten.
Manfred Miersch, 04/2006. © Krautopia ®
"Ebenso revolutionär war die überwältigende
Vermischung von tiefer Ernsthaftigkeit verrücktem Humor die die
meisten Krautrock-Bands verkörperten, während sie an der Schnittstelle
von neuer Technologie und neuem Bewußtsein Pirouetten drehten. Wer sonst
als ein Krautrocker würde es wagen dasselbe Stück Musik in verschiedenen
Geschwindigkeiten auf getrennten Seiten der selben Platte zu veröffentlichen,
so wie 'Neu!' es auf ihrem zweiten Album taten?"
(Mojo, UK, N°41, April 1997)
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